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AutorenbildRainer Harter

Von Träumen und von Selbstverleugnung

17.Juni 2024

Gestern Vormittag las ich während des Frühstücks wie gewohnt die Sonntagszeitung unserer Stadt. Auf ihren letzten Seiten finden sich jeweils die Privatanzeigen, unter denen sich dieses Mal eine befand, die mich sehr angesprochen hat.





In der Annonce wurde ein kleines Häuschen in Ligurien angeboten. Es liegt offenbar einige Kilometer vom Meer entfernt im ansteigenden Hinterland und hat einem schönen Blick auf die Küste. Berührt hat mich das Angebot, weil ich Ligurien sehr mag und weil ich manchmal von einem Ruheort auf der Südseite der Alpen träume. Die Region im Nordwesten Italiens hat einen Charme, der mir gefällt. In manchen Gegenden Liguriens hat man das Gefühl, die Zeit sei in den Siebzigerjahren stehen geblieben. Dort herrschst Einfachheit statt überbordendem Hochglanztourismus.


Szenenwechsel:


Augenblicklich arbeite ich an einem längeren Artikel, der nächstes Jahr als Teil einer vierbändigen theologischen Buchreihe veröffentlicht werden soll. Die Herausgeber baten mich, etwas zum Thema „Die Liebe zu Christus als Motivation zur Selbstverleugnung“ zu schreiben.

Das ist ein starkes Thema, gerade in einer Kultur, in der der Individualismus und die Ich-Bezogenheitt so stark sind wie kaum jemals zuvor. Das Konzept der Selbstverleugnung scheint heute ein Anachronismus zu sein. Und doch gelten die Worte Jesu (z.B. Mk 8,34) auch uns, die wir zweitausend Jahre nach seinem Tod und seiner Auferstehung an ihn glauben und die als Christen leben möchten. Wer ihm nachfolgen will, für den ist die Selbstverleugnung ein selbstverständlicher Akt.


Da sitze ich nun. In mir spüre ich die Sehnsucht nach einem kleinen Haus und mir als Ruheort dienen kann. Zugleich denke ich über den Wert und den Segen der Selbstverleugnung nach und frage mich: Passen denn meine Sehnsucht nach einem Rückzugsort und der Aufruf zu einem Leben der Hingabe an Gott und andere Menschen überhaupt zusammen oder sind sie unvereinbar?


Während der Beschäftigung mit dieser Frage fällt mir dann Abraham ein. Als er den Ruf Gottes hörte, lies er sein altes und gewohntes Leben hinter sich und brach in ein völlig neues Land auf. Nicht wissen, wie es werden würde, vertraute er seinem Gott. Wenn ich Abrahams weiteres Leben betrachte, fällt mir auf, dass Gott ihn gerade aufgrund seiner Bereitschaft, ihm zu vertrauen materiell sehr gesegnet hat. Auch Hiob erging es ähnlich. Ich erkenne, dass Selbstverleugnung und Besitz sich nicht widersprechen müssen - es kommt nur auf die Reihenfolge ihrer Bedeutung für uns an.


Wenn wir bereit sind, unseren Besitz, unsere Zeit und unsere Kraft den Absichten Gottes zu unterstellen, dann versorgt Gott uns auch materiell. Das so genannte „Wohlstandsevangelium“ hat diese Tatsache leider pervertiert und den Glauben an Gottes materiellen Segen anrüchig werden lassen. Das ändert aber nichts an Gottes tatsächlicher Großzügigkeit seinen Kindern gegenüber. In Lk 6, 38 sagt Jesus "Gebt, so wird euch gegeben werden: ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß schütten; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen." In Mt 6,33 steht, dass die richtige Ordnung unserer Prioritäten auch materiellen Segen nach sich zieht: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen".


In beiden Versen kommen Selbstverleugnung und Segen wunderbar zusammen: Wir geben - und Gott versorgt uns. Wir schenken - und Gott beschenkt uns.


Wem oder was gilt meine größte Sehnsucht? Wen oder was brauche ich wirklich? Die Antwort liegt auf der Hand.


Ein Häuschen in Ligurien wäre wunderbar, aber das Wichtigste für mein Leben finde ich an einem anderen Ort.


Eine gute Woche wünsche ich dir. Rainer


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