29. Okt. 2019
So viel Zeit wie in den vergangenen Tagen habe ich kaum jemals zuvor auf meinem Sofa verbracht. Der Grund war aber nicht etwa, dass ich Urlaub gehabt hätte, nein - ich wurde dazu gezwungen.
Die vielen Stunden in der Horizontalen fühlten sich zu Anfang wie vergeudete Zeit an, doch jetzt, wo ich wieder etwas mobiler bin, stelle ich fest, dass ich Erfahrungen machen durfte, die ich so bisher noch nicht kannte.
„Zum Glück kannte ich sie bisher nicht“, möchte ich fast schreiben, aber nur fast, denn es waren Erfahrungen, die zum Teil wunderschön, zum Teil verwirrend, aber in Summe wertvoll für mich waren und die ich ohne eine Krankheit, die mich aufs Sofa zwang, so nicht gemacht hätte.
Seit etwa vier Wochen hatte ich mit einem Nierenstein zu kämpfen, der mir Schmerzen bereitete und trotz Sport, Gebeten und Medikamenten nicht abgehen wollte. Nach drei Wochen war ich schließlich so genervt, dass ich auf „Ignoranz“ schaltete: "Irgendwann würde der Stein schon verschwinden" sagte ich mir. Das tat er aber nicht und hing stattdessen während diverser Dienstreisen wie das in Ciceros Gleichnis vom nur an einem Pferdehaar befestigten „Schwert des Damokles“ ständig über mir.
Eine nächste und besonders wichtige Dienstreise war dann für den vergangenen Sonntag geplant: Mit einem Team aus dem Gebetshaus Freiburg, geleitet von meiner Frau, hätte ich nach Israel reisen und dort unsere seit Jahren bestehende Arbeit in Jerusalem fortführen sollen - aber es kam anders: Am Freitagmorgen wachte ich zwar noch einigermaßen schmerzfrei auf, fuhr ins Gebetshaus und leitete dort eine Anbetungsstunde, aber mitten in dieser Stunde setzten plötzlich heftige Schmerzen ein, die sich mehr und mehr verstärkten. Schnell wurde mir klar, dass ich etwas tun müsse. Der Arzt, bei dem ich an dem Tag einen Vorsorgetermin in anderer Sache hatte, riet mir dann auch, mich gleich in der Uniklinik notaufnehmen zu lassen. Das tat ich und wurde dort in den OP verbracht und ein Eingriff zur Behebung der Blockade durch den Niernestein begann. Als ich aus der Narkose erwachte, war der Stein weg, an mir aber hingen diverse Zu- und Abgänge und ich wurde stationär aufgenommen.
Nach einer Nacht mit heftigen Schmerzen und fast ohne Schlaf ließ ich mich am nächsten Morgen dennoch entlassen und versorgte mich Zuhause mit diversen starken Schmerzmitteln, die mir verordnet worden waren. Ich wollte unbedingt das Gebetshausteam am nächsten Tag nach Israel begleiten. Am Abend musste ich mir dann eingestehen, dass es nicht möglich sein würde - zu heftig waren die Beschwerden. Das Team flog also am Sonntag ohne mich.
Am Montag wurde dann der letzte Katheter gezogen und ich fühlte mich befreit von all den Hilfsmitteln in meinem Körper, doch kurz nach der Entfernung setzten plötzlich Schmerzen in der Niere und im Unterbauch ein, die ich kaum ertragen konnte. Zum Glück betreute mich meine Tochter und persönliche Krankenschwester bestens. Kurz bevor sie einen Krankenwagen rufen wollte, ließen die Schmerzen dann langsam nach und Besserung setzte ein.
Die intensiven Tage voller Schmerzen gingen einher mit den oben erwähnten Erfahrungen, um die es im Folgenden gehen soll. Sie sprechen von bleibenden Werten und Fragen, während der Schmerz allmählich verging:
Zum ersten Mal kann ich nun erahnen unter welchen inneren Druck man geraten kann, wenn viele Menschen um Heilung für einen beten und es geschieht nichts. Die letzten Wochen waren geprägt von der Zuneigung vieler, denen ich jedoch immer wieder die enttäuschende Antwort geben musste, dass ihre Gebete noch nicht erhört wurden.
Ich kann mir nun besser vorstellen, wie es einem unter einer Krankheit leidendendem Menschen geht, der seinen Freunden doch so gern eine positive Antwort geben möchte, sie aber nicht geben kann. Vielleicht meidet er schließlich sogar die Begegnung mit ihnen, oder sieht sich als denjenigen an der zu wenig Glauben für Heilung aufbringt und deshalb noch nicht geheilt wurde. Vielleicht nimmt er sich als eine Enttäuschung wahr.
Andere Freunde sprachen mir Mut zu, die Reise trotz allem zu wagen und zu erwarten, dass Gott meinen Glauben dementsprechend belohnen und mich heilen würde - so war ihr Eindruck. Ich tat es nicht. Dies liess mich darüber nachdenken, wie es wohl anderen, innerlich weniger gefestigten Menschen in einer ähnlichen Situation geht. Ich kann mir vorstellen, dass mancher in einen inneren Konflikt gerät, wenn er sich anders entscheidet, als es ein „Eindruck“ beschreibt. Scham, Versagens- und Schuldgefühle können im schlimmsten Falle die Folge sein. Wie wichtig ist es, dass wir alle bei der Weitergabe von solchen Eindrücken dies in einer Art tun, die dem Empfänger noch die Luft lassen, sich anders entscheiden zu dürfen. Und wie wichtig ist es auf der Empfängerseite, Eindrücke zu prüfen, auch wenn sie uns mit bester Absicht, reinem Gewissen und großer Überzeugung vermittelt werden.
Immer wieder hörte ich erstaunliche Neuigkeiten aus Israel: Das Team wuchs ohne mich über sich (und mich?) hinaus. Es übernahm meinen Teil an Verantwortung nicht nur, sondern bewirkte und erlebte Dinge, die mit mir vielleicht ganz anders verlaufen wären. Die Erfahrung von Krankheit zeigte mir, dass die Lücke, die ich hinterließ, von treuen Mitarbeitern und Freunden nicht nur geschlossen wurde, sondern sich darüber hinaus neue Kreativität und Schönheit entfalten konnte. Vielleicht bin ich als Leiter ja weniger wichtig, als ich und andere denken?
Besonders schön war die Erfahrung, welche Menschen in der Not zuverlässig einfach da sind. Ohne große Worte, aber mit Zuneigung und Fürsorge. Dazu gehörten in meinem Fall neben wenigen, engen Freunden auch einige, mit denen ich gar nicht viel Zeit verbringe. Sie rechnen nicht auf, wie oft wir uns sehen oder was ich für sie tue und ob sie sich deshalb nun kümmern wollen oder nicht: sie tun es einfach. Ich stellte fest, dass es eine Gruppe von „verborgenen Freunden“ in meinem Leben gibt, die dann da sind, wenn es zählt. Dazu gehören auch meine Vermieter, in deren Haus wir seit fast einem Vierteljahrhundert wohnen.
Zuletzt möchte ich die wichtigste aller Erfahrungen dieser Tage und Wochen erwähnen. Es ist die Tatsache, was für ein Segen es ist, wenn man eine Familie hat, die von Liebe durchdrungen ist. Da meine Frau das Team in Israel führen muss, standen unsere erwachsenen Kinder und deren Partner ohne zu zögern Tag und Nacht „auf der Matte“. Ich bin stolz und unendlich dankbar und es rührte mich zu Tränen, erleben zu dürfen mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre eigenen Pläne hintenanstellten damit sie bei mir sein konnten um mich zu trösten, zu versorgen, herumzukutschieren, zu ermahnen ("Hast du dein Glas leer getrunken?") und zu bekochen.
Wenn man also - so wie ich - will, kann man die zu Ende gehende Zeit der Schmerzen auch als besonders wertvolle Zeit des Beobachtens, Hinterfragens, aber vor allem: des Segens betrachten. Ich klage Gott nicht an, dass ich nicht auf Gebet hin geheilt wurde. Ich musste daran denken, wie Jesus seine Schmerzen am Kreuz bloß aushalten konnte. Ich bin dankbar für das Lebens- und Beziehungsumfeld, in das Gott mich hineingestellt hat und für die Gedanken, die ich mir machen durfte. Und ich freue mich darüber, dass sich die eine Kernwahrheit bestätigt hat, von der ich schon so lange überzeugt bin:
Beziehungen stellen die Grundlage für Glück im Leben eines Menschen dar - Beziehungen zu Gott, zur Familie und zu Freunden.
Ich bin ein gesegneter Mensch, weil ich sie haben darf und schaue entspannter in meine Zukunft, weil ich weiß: die meinen sind tragfest.
Alles Liebe. Rainer
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