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AutorenbildRainer Harter

Gott 2.0 - der Versuch einer (scheinbaren) Befreiung


Eine theologische Welle durchläuft unser Land:


Einige Theologen greifen kontroverse Themen auf und versuchen, vermeintlich schwierige oder überkommene Aussagen der Bibel zu klären.




Soweit ich verstehe, geht es darum, das Christentum aus seiner angeblichen Engstirnigkeit und Ausgrenzung zu befreien und für die heutige Zeit kompatibel zu machen.


Doch was grundsätzlich ein lobenswertes Ansinnen ist, verwendet aus meiner Sicht falsche Ansätze, weil man beispielsweise nach dem sucht, was man unbedingt finden will. Beim näheren Hinsehen kann der Versuch, den ich einmal „Gott 2.0“ nennen möchte, nicht halten, was er versucht zu versprechen.


Die Bemühungen nämlich, Gott und das Christentum neu zu formen gehen so weit, dass selbst zentrale Glaubensinhalte wie der stellvertretende Opfertod Jesu am Kreuz negiert und quasi aus dem Weg geräumt werden, weil sie dem postmodernen Denken und Empfinden unverständlich und unzumutbar seien. Stattdessen wird ein Evangelium propagiert, das die heutigen Denkmuster perfekt bedient.


Ich glaube nicht, dass dieser Ansatz wirklich zu Befreiung von überkommenen Annahmen und damit zu einem Glauben, der leicht verständlich und einfach umsetzbar ist, führt.

Zudem ist diese Strömung ein Symptom einer völlig verunsicherten Kirche des Westens. Mir fehlt beispielsweise der Abgleich zur weltweiten Kirche. Man kann den Eindruck gewinnen, wir machen uns in einem theologischen Elfenbeinturm begeisternde Gedanken, während der Großteil der weltweiten Christen mit ganz anderen Herausforderungen beschäftigt ist. Zugleich ist in ihren Ländern der Glaube noch eine Bewegung und die Kirche wächst.



In der Kürze dieses Blogs möchte ich fünf konkrete Denkfehler benennen, die ich in den Argumenten der „Gott 2.0-Theologen“ zu erkennen meine:


  1. Wir können Gott vollständig verstehen


Ein zentraler Irrtum liegt in der Annahme, dass Gott in seiner Ganzheit für uns Menschen begreifbar sei. Dies ist eine Fehleinschätzung, über die ich mich sehr wundere. Die Bibel zeigt nämlich das Gegenteil: Begegnungen mit Gott – ob im Alten oder Neuen Testament – offenbaren immer eine tiefe Kluft zwischen seiner Heiligkeit und Andersartigkeit einerseits und unserer Begrenztheit und Unvollkommenheit andererseits. Selbst Johannes, der engste Freund Jesu, fällt wie tot nieder, als er dem auferstandenen Christus begegnet (Offb 1,17) - Gott ist der vollkommen Andere, den wir nicht (er-)denken können. Ein Gott, den wir vollständig verstehen oder erklären können, ist ein Produkt unserer Vorstellungskraft - siehe z.B. Jes 55,8-9.


Oder, wie es der große Denker und Kirchenlehrer Augustinus formulierte:

„Wenn du es begreifst, ist es nicht Gott.“ (“Sermo 52” (Predigt 52), Abschnitt 16)




  1. „Gott ist Liebe“ steht über allem


„Gott ist Liebe“, heißt es oft, und das stimmt zweifellos (1 Joh 4,8). Mir scheint es, als würde dabei allerdings übersehen werden, dass die Liebe Gottes untrennbar mit seiner Heiligkeit verbunden ist. In der Bibel stellt Gott sich vor allem als heilig vor – über 800 Mal wird seine Heiligkeit erwähnt, während „Gott ist Liebe“ nur zwei Mal explizit so niedergeschrieben ist.

Das Geschehen um Jesu Tod sei eine Botschaft für uns Menschen, damit wir verstehen, wie groß Gottes Liebe ist. Mit Vergebung unserer Sünden hätte es nichts zu tun, das hätte Gott unabhängig vom Kreuz sowieso getan.


Warum übersehen diejenigen, die derartige Aussagen machen, dass die großartige Liebe Gottes erst dadurch möglich wird, dass er heilig ist? Und eben diese Heiligkeit erfordert Konsequenzen, wenn es um die Beziehung zu Gott geht, z.B. ein stellvertretendes, heiliges Opfer, das wir Menschen nicht bringen können, aber Gott in seiner Liebe (!) schon - durch seinen Sohn Jesus Christus. Die Heiligkeit Gottes bedeutet, dass er ohne Sünde und vollkommen gerecht ist. Genau deshalb ist das Kreuz zentral: Gottes Liebe und Heiligkeit finden dort ihre vollkommene Erfüllung. Ohne die Heiligkeit wird Gottes Liebe banalisiert. Das Opfer Jesu ist keine bloße Botschaft, sondern die Grundlage unserer Vergebung.




  1. Selektive Wertung von biblischen Aussagen und Vernachlässigung des Gesamt-kontextes der Heiligen Schrift


Neulich las ich die Aussage, der erste Mensch (Adam bedeutet im Hebräischen „Mensch“) sei androgyn gewesen, also sowohl das männliche, als auch das weibliche Geschlecht in sich tragend. Dabei bezog man sich auf einen der beiden biblischen Schöpfungsberichte (1.Mo 1,27), wo es heißt:

„Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.“

Diese Interpretation ist nicht neu, sie findet sich auch in einigen jüdischen und christlichen Schriften sowie in der Philosophie- und Theologiegeschichte. Doch sie widerspricht dem biblischen Gesamtzeugnis. Bereits im nächsten Kapitel wird deutlich, dass Gott den Menschen als zwei Geschlechter geschaffen hat:


„Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen; und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott baute die Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, zu einer Frau“ (1.Mo 2,21–2)

Die Bibel spricht von einer Ergänzung, nicht von einer Vermischung der Geschlechter. Die Beziehung von Mann und Frau ist ein Schlüssel zur Schöpfungsordnung. Im Hebräischen wird der Begriff „Adam“ für den ersten Menschen verwendet und nicht für ein zweigeschlechtliches Wesen. 1.Mo 1,27 spricht im Plural („Mann und Frau“), was zeigt, dass Gott von Anfang an zwei Geschlechter erschaffen hat, nicht ein androgynes Wesen. Die biblische Geschichte spricht deutlich von der Komplementarität von Mann und Frau, nicht aber von ihrer gleichzeitigen Existenz in einem Menschen. Diese Differenz ist zentral für die Beziehung zwischen den Geschlechtern, wie sie in 1.Mo 2,24 beschrieben wird:


„Darum wird ein Mann (nicht: „Mensch“) seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau (nicht: „Mensch“) anhängen, und sie werden ein Fleisch sein.“

Androgynie als Gottes ursprüngliche Absicht führt zu einem Bruch mit der biblischen Sexualethik und auch mit den Worten Jesu selbst (Mt 19,4–5):


„Habt ihr nicht gelesen, dass der, welcher sie schuf, sie von Anfang an als Mann und Frau schuf?“



  1. Die biblische Geschichte sei nicht abgeschlossen


Ein weiterer Gedanke mancher ist, dass die Bibel nur ein Anfangspunkt sei und sich Gottes Geschichte mit uns weiterentwickle. Das klingt durchaus sinnvoll, widerspricht aber hinsichtlich der Kernaussagen über Gott, seinem Wort und der Beziehung zum Menschen den grundlegenden Aussagen der Schrift, wie z.B.


„Denn ich, der Herr, ändere mich nicht“ (Mal 3,6).
„Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebr 13,8).

Gerade die Unveränderlichkeit Gottes ist ein zentraler Trost. Ein Gott, der sich ständig anpasst, verliert seine Zuverlässigkeit und damit seine Glaubwürdigkeit.





  1. Persönliche, die Theologie beeinflussende Erfahrungen werden möglicherweise zu wenig berücksichtigt

Unser persönlicher Glaube wird von vielen Variablen beeinflusst, dazu gehört auch unsere persönliche Lebensgeschichte. Es ist verständlich, dass persönliche Glaubenserfahrungen – auch schmerzhafte – die Perspektive prägen und zur Suche nach neuen Wegen führen. Doch wenn der berechtigte Wunsch nach Emanzipation eine zu große Rolle einnimmt, wenn es darum geht, über die Bibel, den Glauben und Gott neu nachzudenken, steht leicht eine Schieflage.


Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Bedeutung der persönlichen Vergangenheit nicht ausreichend berücksichtigt wird und es deshalb zum bekannten „Kind mit dem Bade“-Effekt kommen. Das tragische daran ist, dass eine zu sehr durch die Brille der persönlichen Erfahrung eingefärbte Sicht verallgemeinert, verbreitet und geglaubt wird.





Schlussgedanken


Ich habe es schon einmal geschrieben und bei allem Respekt gegenüber der Aufrichtigkeit der Vertreter dieser (gar nicht so) neuen „Aufklärung" und „Befreiung“ empfinde ich ich die mir bekannten ihrer Argumente und Belege als schwach und wenig überzeugend. Ich wiederhole mich auch, wenn ich schreibe, dass aus meiner Sicht der Versuch, zentrale, über zwei Jahrtausende gültige biblische Aussagen derart umzudeuten, logischer- und konsequenterweise zum Zusammenbruch des bestehenden biblischen Kanons führen muss.


Die populärsten Umdeutungen führen zur Notwendigkeit, weitere Aussagen umdeuten oder ganz negieren zu müssen. Dann aber bleibt eine Schrift übrig, die zwar einen freundlichen Gott beschreibt, der allerdings bei näherer Betrachtung recht belanglos ist, weil er auf das Maß eines (erdachten) Menschen zurückgestutzt wurde. Er ist weder heilig, noch konsequent, aber er ist halt „lieb“.


Ich hoffe, dass unsere Theologen gemeinsam darum ringen werden, die Frage nach der Übersetzung der biblischen Aussagen in die Denkwelt von heute in einem konstruktiven Dialog zu diskutieren und nicht vergessen, dabei den Heiligen Geist um seine Führung bitten.


Ich bin kein Theologe. Aber ich versuche mitzudenken und bin in fast 40 Jahren der Auseinandersetzung mit der Bibel und der Kirchengeschichte zu einem Ergebnis gekommen: Gott 2.0 ist eine Illusion.


Alles Liebe. Rainer

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