08.Oktober 2024
So viele einst vorbildliche und wegweisen-de Gemeinschaften und Gemeinden zerbrechen.
Warum ist das so, und was können wir als Zugehörige dafür tun, dass unsere Gemeinschaften über viele Jahre hinweg bestehen können? Was kann ich als Leiter tun, um zu verhindern, dass in meinem Dienst eine toxische Kultur entsteht?
Wie kann ich meinem Team ein Vorbild sein, ohne dabei den Eindruck zu vermitteln, sie sollten alle so werden wie ich? Was darf und kann ich von den Menschen erwarten, die sich der Vision angeschlossen haben, die Gott mir vor 25 Jahren gegeben hat? Und wie finde ich die Balance zwischen berechtigtem Fordern und selbstverständlichem Fördern? Diese Fragen beschäftigen mich schon länger.
Unsere Unterschiedlichkeit als Menschen macht es nicht leicht, eine Gemeinschaft zu formen, die langfristig miteinander leben und arbeiten kann. Bereits der Begriff „Gemeinschaft“ ruft bei den verschiedenen Menschen, die Teil davon sein möchten, unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen hervor, die zu Enttäuschungen führen können.
Beispielsweise bin ich – ganz vereinfacht gesagt – eher „digital“ geprägt. Für mich gibt es oft nur zwei Wege, um ein Ziel zu erreichen: den richtigen und den falschen. Die radikalen Aussagen Jesu zur Nachfolge sprechen mich tief an, und ich bin dankbar, dass er sich so klar ausgedrückt hat – das passt zu meiner Art zu denken. Doch ich erkenne auch, dass andere Menschen anders gestrickt sind als ich und zu anderen Ergebnissen kommen, wenn sie über Nachfolge nachdenken. Während ich jemand bin, der sich kaum einmal mit dem Status quo zufrieden gibt, können andere sich damit arrangieren oder wollen vielleicht gar nicht mehr erreichen. Zufriedenheit stellt sich aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen und Erwartungen früher oder später ein. Ich habe natürlich kein Recht, mein Team zu manipulieren, unter geistlichen Druck zu setzen oder es zu überfordern. Zugleich sehe ich meine Aufgabe darin, es zu führen, zu begleiten und dazu beizutragen, dass es über seine bisherigen Begrenzungen hinauswachsen kann. Als Leiter muss ich immer in zwei Richtungen schauen: Nach hinten - hat das Team noch Anschluss? Und nach vorne: kommen wir unserem gemeinsamen Ziel näher?
In der Beobachtung der Gemeinschaft des Gebetshauses Freiburg und anderer Gemeinschaften sind mir zwei Herausforderungen aufgefallen, die eine große Rolle für das gemeinschaftliche Miteinander spielen.
Die erste Herausforderung besteht in der Gefahr der Überhöhung. Weder die gemeinsame Vision noch die Leiter noch die gegenseitigen Ansprüche und Erwartungen dürfen überhöht werden. Ja, wir Christen rechnen mit dem übernatürlichen Wirken des Heiligen Geistes, aber gleichzeitig sind wir alle Menschen – mit Ecken und Kanten, die anderen hin und wieder „blaue Flecken“ zufügen. Zudem ist es völlig normal, dass eine Gemeinschaft verschiedene Phasen durchläuft – einige fühlen sich wunderbar an, während andere eher mühsam sind. Doch beide gehören zur Entwicklung dazu und sind von Bedeutung.
Die zweite Herausforderung hängt eng mit der ersten zusammen: So wichtig Werte wie Transparenz, gute Kommunikation und Fürsorge füreinander auch sind, darf der Wert der Vergebung nicht übersehen werden. In jeder Gemeinschaft gibt es Irritationen, Missverständnisse und bewusste oder unbewusste Verletzungen. Diese auszublenden, führt zwangsläufig zu Enttäuschung und Frustration. Leiter verletzen manchmal ihre Mitarbeiter – bewusst oder unbewusst – und umgekehrt enttäuschen und verletzen auch Mitarbeiter ihre Leiter. Ohne eine Kultur der Vergebungsbereitschaft und das Bewusstsein, dass wir einander vergeben müssen, ist eine geistliche Gemeinschaft von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Ich bin dankbar für den Realismus der Bibel, die häufig von menschlichen Konflikten berichtet – sei es im Alten oder im Neuen Testament. Besonders hervor sticht für mich der Konflikt zwischen Paulus und Petrus, der offen ausgetragen wurde, aber offenbar nichts an der gegenseitigen Wertschätzung und Anerkennung des anvertrauten Amts des jeweils anderen geändert hat. Die beiden sind nicht in der Auseinandersetzung stecken geblieben, sondern konnten weiterhin das gemeinsame Ziel verfolgen: die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Diese Fähigkeit wünsche ich mir in den Gemeinden und Gemeinschaften in unserem Land. Zu oft stehen aus meiner Sicht die persönlichen Erwartungen, Träume und Bedürfnisse im Vordergrund. Ja, sie sind wichtig und spielen eine Rolle – aber nicht die Hauptrolle. Gemeinschaft bedeutet immer auch, einen Teil der Individualität freiwillig aufzugeben.
Im Laufe meiner Leitungslaufbahn habe ich Menschen aus verschiedenen Gründen verletzt. Bei denen, von denen ich wusste, habe ich mich entschuldigt. Umgekehrt wurde ich auch verletzt. Beides hält mich nicht davon ab, weiter daran zu glauben und dafür zu arbeiten, dass geistliche Gemeinschaften zusammenhalten und miteinander reifen können, während sie das tun, wozu sie in ihrem Inneren ein gemeinsames Zeugnis spüren. Eine geistliche Gemeinschaft, die sich um Jesus herum sammelt, einen bodenständigen Realismus pflegt und sich zugleich betend an die Gnade Gottes wendet, kann wunderschön sein - und bleiben.
Natürlich gehört mehr dazu, aber wenn wir darauf achten, unsere Erwartungen nicht zu überhöhen und wenn wir eine Kultur der Vergebung miteinander pflegen, tragen wir entscheidend dazu bei, dass unsere Gemeinschaften im positiven Sinne erfolgreich sein können.
Alles Liebe.Rainer
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