22. Dezember 2017
Wie so viele Redensarten, hat auch die von der „Einsamen Spitze“ ihren durchaus wörtlich zu nehmenden Hintergrund. An der Spitze nämlich kann es tatsächlich einsam sein. Immer wieder begegnen mir Leiter, die sich in in ihrem Inneren einsam fühlen, obwohl ihnen viele Menschen folgen.
Wer „vorne“ steht, steht oft alleine da.
Menschen, die Verantwortung für andere tragen, haben mit einer Herausforderung zu kämpfen, die vielen der ihnen Anvertrauten nicht bewußt ist: Es ist die Einsamkeit des Leiters. Oft gibt es zwar viele Mitarbeiter, Nachfolger, Anvertraute und manchmal sogar Fans um sie herum, doch wenig echte Freunde. Oftmals unbewusst, versuchen Leiter, den unterschiedlichsten Personengruppen gerecht zu werden: Für die Mitarbeiter müssen sie gute Chefs sein, für ihre Nachfolger das perfekte Vorbild und für die ihnen Anvertrauten Hirten, die stets den Weg kennen sollten.
Kurioserweise birgt die Leiterrolle die Gefahr der Distanz zu den Menschen in sich. Die Vorstellung, ein perfekter Leiter sein zu müssen, führt zur Versuchung, sich im Bild einer Rolle zu beheimaten, das nicht mehr als ein Trugbild ist: die Vorstellung nämlich, dass Leiter stets und in jedem Bereich des Lebens einen inneren Vorsprung denen gegenüber haben müssen, die sie anleiten.
Manche Leiter zerbrechen am Ort der „Einsamen Spitze“, weil sie versuchen, den Vorstellungen ihrer Rolle gerecht zu werden, die jedoch der Beschaffenheit ihrer eigenen Seele nicht entspricht und nicht mit ihrem Sein übereinstimmt. Innerlich kämpfen sie mit denselben Dingen, wie jeder andere Mensch auch, doch müssen sie dies verbergen, wenn es um sie keine Freunde gibt, die sie lieben.
Es kann das Gefühl aufkommen, zum Erfolg verdammt zu sein. Je größer jedoch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird, oder je länger diese Spannung erhalten bleibt, desto mehr führt es den Betroffenen in die Einsamkeit.
Immer wieder begegnen mir auch geistliche Leiter, die einsam sind. Je älter sie werden, desto weniger echte Freunde scheinen manche von ihnen zu haben. Allgemein scheint das Problem mehr Männer als Frauen zu betreffen. Männer wollen eher durch ihr Tun zeigen, dass sie wertvoll und wichtig sind. Versagen wird von ihnen gedanklich mit Abwertung verbunden und ist stark mit Verlustängsten besetzt.
In Gesprächen höre ich manchmal Aussagen, die mich zwar nicht wirklich überraschen, mir aber aufzeigen, welche inneren Kämpfe in den Herzen mancher Leiter ausgefochten werden. Alleine treten sie einer Übermacht von inneren und äusseren Erwartungen entgegen und nicht wenige ihrer Kämpfe werden verloren, weil ihnen die Waffenbrüder fehlen: Freunde, die mit ihnen durch dick und dünn gehen.
Ein Freund ist kein Fan. In erster Linie ist ein Freund jemand, der unser Herz liebt und nicht das, was wir darzustellen versuchen. Der Schauspieler in uns interessiert ihn nicht. Er sieht uns auch nicht von einem Glorienschein umgeben, sondern kennt neben unseren Begabungen und Stärken auch unsere Abgründe und Schattenseiten. Ein Freund redet nicht nach dem Mund, sondern spricht auf der Basis seiner Zuneigung Worte der Wahrheit. Er kann dabei helfen, mit der Schauspielerei aufzuhören, in dem er unverbrüchlich an unserer Seite steht, seinen Finger auf wunde Punkte legt und uns Unterstützung bei dem Prozess gibt, authentischer zu werden und ähnlicher wie Jesus. Ein Freund ist ein Weggefährte. Im eisigen Wind dort oben auf der Spitze des immer neu zu erklimmenden Berges der Aufgaben eines Leiters lässt er uns nicht alleine, sondern schiebt uns bergan, mahnt uns zu Pausen und rät uns, den einen oder anderen Aufstieg abzubrechen, wenn er sieht, dass wir dabei sind, über unsere Kräfte zu gehen.
Wer einen oder sogar mehrere wirkliche Freunde gefunden hat, kann sich glücklich schätzen, denn er bleibt in den Weiten seines eigenen Universums nicht allein. Er verliert nicht so schnell den Kurs, wenn da einer ist, der ihm auf die Schulter klopft und ihm sagen darf, dass er an einer bestimmten Stelle lieber beidrehen und die eingeschlagene Richtung korrigieren sollte - und ihm dann dabei hilft, das Ruder herumzureissen.
Wo echte Freundschaften fehlen, kann sich ein Berg der Scham über die eigene Fehlbarkeit auftürmen, der zu groß scheint, als dass man ihn anderen zeigen könnte. Wo hingegen ein Freund ist, vertreibt Liebe die Scham und das daraus resultierende Schauspiel. Freunde helfen uns dabei „echt“ zu werden, zu sein und zu bleiben.
Was für Leiter gilt, ist natürlich wahr auch für jeden anderen Menschen: Wer zulässt, dass seine Freundschaften wegbrechen, vereinsamt und steht in der Gefahr, vom Weg abzukommen. Wer diese wichtigen Beziehungen im Versuch - oder besser: in der Versuchung - kappt, alleine seinen Weg zu gehen, mag zwar immer noch von Aussenstehenden als erfolgreich angesehen werden. Doch wird er irgendwann feststellen, wie dünn die Luft an der Spitze ist, und wie nötig es wäre, dass da einer, zwei oder drei Freunde sind, die an seiner Seite gehen und von denen einer vielleicht sogar ein paar Sauerstoffflaschen dabei hat - bevor ihm die Luft ganz ausgeht.
Ein Freund liebt zu jeder Zeit, und als Bruder für die Not wird er geboren. Sprüche 17,17
Alles Liebe. Rainer Harter
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